Eziden in Hannover: Geschichte und Gegenwart

Die ersten Eziden (Jesiden, Yeziden) kamen als Gastarbeiter nach Hannover. Die Verfolgung in ihren Heimatländern - erst der Türkei, später Irak und Syrien - lässt die Gemeinde wachsen.

Der Pfau symbolisiert das Ezidentum. Bild: HdRDie Eziden stammen nur zur Hälfte von dieser Welt, sagt eine ihrer Legenden. Adams Lieblingssohn, der als einziger nicht von Eva geboren wurde, zeugte sie mit einer dunkelhäutigen Paradiesjungfrau. Als Minderheit innerhalb einer Minderheit, als Nicht-Muslime unter den mehrheitlich muslimischen Kurden, haben sie für ihr Anderssein einen bitteren Preis bezahlt: In der Türkei leben inzwischen kaum noch Eziden. Aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten im Nordirak hat der so genannte "Islamische Staat" Zehntausende vertrieben. „Deutschland ist inzwischen das Land mit der zweitgrößten ezidischen Bevölkerung“, sagt Hatab Omar, Vorsitzender der Ezidischen Akademie Hannover e.V. Im Landkreis Celle befindet sich mit rund 5.000 Gläubigen die inzwischen größte ezidische Gemeinde der Welt.

Die Geschichte der Eziden in der Region Hannover beginnt mit dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei von 1961. Im kurdischen Mardin wurde ein Anwerbebüro eröffnet. Zusammen mit den muslimischen Arbeitern kamen auch Eziden nach Niedersachsen. Sie arbeiteten bei Volkswagen, beim Elektronik-Hersteller Telefunken oder in der Bauindustrie. „Inzwischen haben einige Söhne der Arbeiter von damals eigene Baufirmen gegründet“, weiß Hatab Omar. Zuwanderer der ersten Generation haben ihm ein Haus in Uetze in der Region Hannover gezeigt, in dem ausschließlich ezidische Arbeiter unter einfachsten Bedingungen lebten.

Inzwischen wurden in der Türkei Eziden drangsaliert und aus ihren Dörfern vertrieben. Immer mehr Gläubige flüchteten. Die Männer, die als „Gast“-Arbeiter nach Deutschland gekommen waren, holten ihre Familien nach und stellten sich auf ein Leben im Exil ein. Mit dem Anwerbestopp im Jahr 1973 errichtete die deutsche Politik jedoch eine hohe Hürde dafür: Türkischstämmige Einwanderer mussten nun Asylanträge stellen. Deutsche Behörden und Gerichte fanden immer wieder Argumente, um die Verfolgung in Zweifel zu ziehen. „Erst in den 1980er Jahren wurden die Eziden als verfolgte Gruppe anerkannt“, berichtet Hatab Omar.

Hayri Demir zu Gast im Haus der Religionen (Foto: Religionen im Gespräch)Neue politische Krisen zogen in den 1990ern neue Flüchtlingsströme nach sich: Eziden aus Syrien, dem Irak und Georgien fanden eine neue Heimat in Hannover. „Unsere gemeinsame Sprache, die Êzdîki oder Kurmancí genannt wird, verbindet uns“, sagt Hatab Omar. „Seit 2014“, ergänzt Hayrî Demir, „haben die Flüchtlinge aus dem Irak unsere Gemeinschaft sicher noch einmal um ein Viertel oder Drittel vergrößert“. Der angehende Jurist arbeitet in einer Anwaltskanzlei, die zahlreiche ezidische Mandanten vertritt, und betreibt die Internetseiten Êzîdîpress und Êzîpedia. Anders als in anderen niedersächsischen Städten gibt es in der Landeshauptstadt allerdings kein ezidisches Gemeindezentrum. „Das macht die Integration der Flüchtlinge nicht einfacher“, bedauert Hayrî Demir: Neuankömmlinge sind auf zufällige Kontakte angewiesen, um Anschluss an die Gemeinschaft zu finden.

„Zum Neujahrsfest mieten die Familien große Hallen, um gemeinsam zu feiern“, erzählt Hatab Omar. 2015 hatte die Föderation Ezidischer Kurden, einer der beiden ezidischen Dachverbände in Deutschland mit Sitz in Celle, zu einem Neujahrsfest in das Hannover Congress Centrum eingeladen. 5.000 Eziden aus ganz Deutschland waren der Einladung gefolgt. Für die Föderation sind Religion und Politik eng verknüpft: Sie steht der PKK nahe, die viele Eziden in der Türkei als eine Art Schutzmacht gegen die Übergriffe des Staates erlebt haben. Andere kritisieren die Verbindung von Religion und Politik, wie sie bei solchen Großveranstaltungen sichtbar wird.

Eigentlich hat der IS gesiegt.

„Die beiden Dachverbände in Deutschland, die Föderation Ezidischer Kurden und der Zentralrat der Yeziden, waren schon auf dem Weg, sich auf eine Zusammenarbeit zu einigen“, berichtet Demir. Aber nach den Massakern im Nordirak war keine Verständigung mehr möglich. „Eigentlich hat der IS gesiegt“, bemerkt der Aktivist bitter. Die Eziden hatten sich zunehmend der deutschen Gesellschaft geöffnet. Das Verbot, außerhalb der Volks- und Glaubensgemeinschaft zu heiraten, das bis heute für viele Konflikte sorgt, galt in manchen Familien schon als veraltet. Aber jetzt? „Durch die Verfolgung hat es wieder einen Sinn bekommen, die ezidische Identität zu wahren.“

Seit 1990 gibt es ein Gräberfeld auf dem Stadtfriedhof Lahe, auf dem Gläubige nach ezidischem Ritus bestattet werden können: Mit dem Kopf nach Westen, so dass sie der aufgehenden Sonne entgegenblicken. „Das Gräberfeld ist wichtig“, sagt Hayrî Demir. „Es gibt eine große Verbundenheit mit den Ahnen. Wenn unsere Eltern und Großeltern hier bestattet werden, heißt das: Unsere Geschichte in Deutschland beginnt.“

Summer School in der Ezidischen Akademie (Foto: Ezidische Akademie)2009 gründete eine kosmopolitische Gruppe aus Eziden und Nicht-Eziden die Ezidische Akademie. Ihr Anliegen ist sowohl ein religiöses als auch ein soziales: Sie forschen über den Ursprung der ezidischen Religion, über den es zahlreiche Theorien gibt, haben die Ezidische Bibliothek aufgebaut und geben eine eigene Zeitschrift heraus. Die Mitarbeiter unterstützen ezidische Einwanderer dabei, Deutsch zu lernen und in der deutschen Gesellschaft anzukommen, begleiten Kinder in ihrer Schulkarriere und wollen die Position der Frauen durch Bildung stärken. „Frauen geben die Kultur weiter“, sagt Virginia Apel. Die US-Amerikanerin hat die Frauenarbeit der Akademie aufgebaut. Das aktuelle Projekt, für das die Ezidische Akademie unter anderem von der EU und dem niedersächsischen Ministerium für Soziales gefördert wird, heißt „Asylhilfe in Niedersachsen“. Ezidische und andersgläubige Migrantinnen und Migranten erhalten hier Rechts- und Sozialberatung. Außerdem gibt es Alphabetisierungskurse in deutscher Sprache. Die Projektförderung macht es möglich, dass die Akademie über die ehrenamtliche Arbeit hinaus Stellen schaffen und Honorare an Fachkräfte zahlen kann. Inzwischen wurden Sektionen in Nordrhein-Westfalen und Bayern gegründet.

Der Text stammt aus dem Buch "Religionen in Hannover", hg. v. Rat der Religionen, Hannover 2016

ZUM WEITERLESEN:

Martin Affolderbach / Ralf Geisler, Die Yeziden, Berlin 2007
hier kostenlos zum Download

Andreas Flick, Êziden. Geschichte, Religion, Kultur. Celle 2014
Die Broschüre ist zu beziehen über den Landkreis Celle, Kreisarchiv, Postfach 3211, 29232 Celle, (05141) 916 20 55, kreisarchiv-celle@lkcelle.de

Halil Savucu, Yeziden in Deutschland. Eine Religionsgemeinschaft zwischen Tradition, Integration und Assimilation, Marburg 2016

Zuletzt geändert: 02.05.2023 - 10:39